Kurze Texte über Musiker und bildende Künstler.

Die Kunst hat eigene Formen der Entwicklung.

Nicht geradlinig, langsam und zielbewußt, wie die exakten Wissenschaften, hebt sie sich immer stolzer empor, sondern ihr Weiterschreiten ist ein fortwährendes Ringen und Sichentfalten der gegensätzlichen Kräfte, ein Kampf, bei dem erst immer die Nachgeborenen entscheiden können, ob er ein Sieg war im Sinn des ewigen Fortschritts, oder eine Stauung und Hemmung.

Jeder Kunstrichtung erwächst die Spannkraft, die sie zur Herrschaft führt, erst immer aus dem Widerstand feindlicher Richtungen, und ihr eigenes Aufblühen nährt schon wiederum die Keime der besiegten Strebungen, die sich in anderer Form offenbaren.

Neue Kunstrichtungen entstehen also nie organisch, sondern immer in Revolutionen, die eine von vielen gleichzeitig erfaßte neue Idee oder eine überragende Persönlichkeit herbeiführt.

Und unablässig weist die Kunstgeschichte dieses wichtigste regulative Prinzip auf, daß, wenn eine Richtung ihre klassische Blüte überwunden hat und sich gleichsam über sich selbst hinaus in ihr Extrem fortsetzt, wenn sie nur die formalistischen Werte steigert und vervielfältigt und nicht die innerlichen, harmonischen, plötzlich die Gegenströmung vorbricht, heftiger, konsequenter in ihren Tendenzen, als sie es eigentlich meint, aber nachdrücklich in Rangstellung zu den herrschenden Prinzipien, die sie überwindet oder rückhaltlos in sich aufgehn läßt.“

Stefan Zweig.
Aus: Kurze Texte über Musiker und bildende Künstler/ Briefe an Frans Masereel