„Du mußt was mit Musik machen.“

Vor einigen Tagen habe ich erfahren, daß Wilhelm Kusch gestorben sei.
Im August sei er beerdigt worden.

Ich hab es ihm nie persönlich gesagt (aber er hat es eh gewußt), daß er einer der Menschen war, die mich am deutlichsten geprägt haben.

„Herr Kusch“ war mein Musiklehrer. Am Gymnasium. Musik war für mich ein Abifach. Die Oberstufe mit und bei ihm wurde zentral für meine eigene musikalische Bildung. Damals war er jung. Ein Linker. Ein Kettenraucher. Er hat Schnipsen gehasst. Und das Klickern mit Kugelschreibern. In meiner Vorstellung sieht er immer noch so aus, ungealtert.

Im Frühsommer 1993 habe ich bei ihm die letzte aller Abiturprüfungen abgelegt. Das war einer der Momente, die sich wie eine Filmszene in meinem Gedächtnis festgehalten haben:
Musik als mündliches Abifach, die letzte Abi-Prüfung überhaupt. Ich war an diesem Tag als erster aller Prüflinge im Fach Musik dran (wegen des Alphabets). Und da man in Musik wegen der ganzen Hörbeispiele mehr Vorbereitungszeit für die Prüfung hat, war ich früher am Gymnasium als jeder andere.

Es war ein herrlicher, kühler Morgen und ich bin vollständig alleine zum letzten Mal als Schüler auf diesen leeren, frühmorgendlichen Pausenhof getreten und durch die Schule bis zu meinem Prüfungsraum gegangen. Die Prüfung selbst ging natürlich über Schönberg, Berio, Skalen – Kusch eben.

Nach der Prüfung bin ich ihm auf dem Gang (kurz vor der Brücke) noch einmal begegnet (wahrscheinlich wollte er eine rauchen gehen). Er hat mich gefragt: „Und? Was machst Du jetzt?“

Ich hab ihm kurz von meinen damaligen Plänen erzählt, Biochemie zu studieren und den Problemen mit dem Numerus Clausus und daß es wahrscheinlich darauf hinausläuft, daß ich erstmal Chemie studieren werde.

Er hat mich ratlos angesehen und gesagt: Du mußt was mit Musik machen.“

Erst am Abend habe ich dann erfahren, daß er mir 15 Punkte gegeben hatte. Eine Note, die er eigentlich nie vergab. In seiner Vorstellung gab es keine 1 plus.

Ich bin die Treppe runter, raus aus der Schule – und hatte das Leben vor mir, die Schulzeit hinter mir. Und natürlich habe ich „etwas mit Musik“ gemacht. Eine ganze Karriere.

Vor vielleicht 10 Jahren hatte ich den Gedanken, ihn auf einem der Elternsprechtage des Gymnasiums zu besuchen, ihn zu treffen und ihm zu danken (was ich leider am Ende nicht gemacht habe). Ich habe ihn damals kurz entschlossen angerufen (da waren 20 Jahre vergangen, seit wir das letzte Mal gesprochen hatten):
„Hallo Herr Kusch, hier spricht Tobias Debuch, ich wüßte gerne, wann es den nächsten Elternsprechtag gibt.“

Er war weder überrascht, noch irritiert. „Herr Kusch“ hat wie immer gesagt:
„Tobias. Ja. Wie geht’s Dir?“